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008 Der Tunnel

Der Tunnel, schwarz und düster, lag hinter ihm. Endlose Stunden strauchelte, wankte er durch die Düsternis, fiel mehrmals auf seine Knie, die inzwischen blutig und zerschunden seinen Gang hemmten, hörte schon sein Blut durch den Körper rau-schen, doch der Tunnel hatte einfach nicht enden wollen. Bis jetzt, jetzt lag er hinter ihm. Merkwürdig, dachte er, warum dieser Tunnel wohl für ihn so wichtig gewesen war und es jetzt nicht mehr an Bedeutung mit seiner Erkenntnis aufnehmen konnte, dass der Tunnel keinerlei Bedeutung besass. Ein Tunnel ist ein Tunnel, ging es ihm durch den Kopf, nicht mehr und auch nicht weniger. Ein Tunnel unter vielen, aber ein Konstrukt, durch das er gegangen war, ohne grösseren Schaden zu nehmen, aber auch ohne ersichtlichen Nutzen davon gehabt zu haben. Es muss doch einen triftigen Grund dafür gegeben haben, ihn zu betreten.
Ausserdem, Tunnel, noch dazu schwarze und düstere, wuchsen nicht wie Pflaumen auf einem Baum. Irgendjemand hatte ihn gerade dorthin gebaut, wo... Ja, wo denn wohl? Wo war er vorher gewesen, bevor dieser Tunnel seinen Weg kreuzte? Er war in einer katholischen Kirche gewesen, nein nicht direkt. Nachdem er den Eingang einer Kirche betreten hatte, Gotteshaus mit doppelflügeliger Bronzetür, die Tür leise hinter sich geschlossen hatte, stand er im Dunklen. Nicht der winzigste Lichtfetzen durchdrang den Raum um ihn her. Dann glomm plötzlich, wie, als wenn ihn das Gotteshaus erst jetzt bemerkt hätte, ein Lichtfunken in ziemlicher Entfernung auf und wurde heller. Da lag der Tunnel schwarz und düster und lud ihn zur Inspektion ein. Die Kirche und mit ihr das Tor, ja sogar der Lichtfunken, alles war verschwunden. Mit gemischten Gefühlen, peinlich berührt, betrat er den Tunnel erneut.

 

009 Gras

Ich bin ein Grashalm, nein, zwei Halme ineinander geschlungen, von Nachbar-halmen im Wind hin und her gedrückt, je nach Windrichtung, in jede beliebige Richtung. Ein Meter Grösse ist meine Normalgrösse, die ich auch bereits erreicht habe. Millionen von Nachbarhalmen bewegen sich mit mir nach einer Choreografie, die ein Künstler erdacht haben muss. Von mattem Grau ist mein Kleid mit zwei Ausbuchtungen an jeder Seite. Dort wachsen die zukünftigen Blätter, die sich in Sonnenspeicher verwandeln werden und zur Reifezeit aufplatzen und ihre Samen-fülle ausstreuen werden, der nachfolgenden Generation zum Start ihres Lebens verhelfend. Der Wind weht und eine schlichte Melancholie, von der strahlenden Göttin des Himmels wohlwollend, wärmespendend umsorgt und mit einem Glitzern ihrer gütigen Aura, Zustimmung verheissend. Ja, Melancholie liegt sozusagen raum-greifend in der Luft. Ich kann nicht viel anderes tun, als dazustehen und mich im Takt des Windes und meiner Nachbarn, die mich fortwährend, die allgemeine Richtung bestimmend, hin und her schubsen. Der Saft in meinen Blattadern pulst lebensspendend, Beruhigung verbreitend, Kraft spendend, einem in der Zukunft liegenden Ziel entgegen. Der Boden bebt. Etwas stampft heran, grauenvolle Trompetenstösse vor sich her sendend. Nein, nicht ein Etwas, viele Eventualitäten kommen meinem Wuchsplatz näher, mit grosser Geschwindigkeit, soweit ich das beurteilen kann. Urplötzlich sind aus den Eventualitäten Individuen geworden. Gewaltige, bis zum Himmel reichende Körper, auf vier baumgrossen Beinen, treten gewaltige Spuren vernichteten Halmlebens. Links und rechts von mir vollzieht sich das Halmsterben. Bis zur Unkenntlichkeit aufgelöste Halmidentitäten schmiegen sich in den feuchten Boden, mir ein letztes Lebewohl zuraunend.

 

Es bleibt immer etwas zurück

010 Flucht

"Ja", sagt er, "Ich werde wiederkommen, wenn ich Klarheit habe". Nach diesen Worten ging er zur Tür, öffnete die mit Sicherheitsglas ausgestattete Metalltür ruckartig und trat, seinen Kragen hochschlagend, in die Regennässe des späten Abends hinaus. Mit einem Fusstritt kickte er eine Cola-Dose in die Dunkelheit. Im schwachen Nebellicht der Laternen, die die einsam und verlassen, lediglich mit parkenden Autos zu beiden Seiten bestückte, feuchtnasse Strasse nur unzureichend beleuchteten, machte er sich auf den Weg zu seinem Wohnmobil, dass am Ende des Boulevards auf die Rückkehr seines Besitzers wartete. Tür aufschliessen, einsteigen, Motor anlassen, blinken, anfahren, einfädeln in den schwachen Verkehr, der zu dieser späten Stunde wohl nur aus heimkehrenden Pendlern bestand. Sein Ziel war der Hafen, die Autofähre, die ihn zum Festland transportieren würde. Seine Tage auf dieser Insel, bei dieser Frau, hatten etwas Unwirkliches, etwas wie ein Rausch von Farben, Gerüchen und einem Körper, der ihn zu Höchstleistungen auf einem Gebiet getrieben hatte, das ihm bisher nur vom Hörensagen bekannt war. Er hatte niemals angenommen, dass seine Libido, wenn überhaupt messbar, in derartige Skalenbereiche der Lust sich aufzuschwingen die Möglichkeiten besass. Vorbei. Die letzten Stunden ziehen ihm beim Einparken seines Mobilheims auf dem Staudeck der Fähre, durchs Gedächtnis. Es hatte einfach nicht gereicht, all die sinnenverwirrenden Eindrücke, die ihn verzückt und berauscht die Zeit vergessen liessen, seine Tage und Nächte im Mahlstrom einer Liebesgöttin, konnten seinen Schmerz nicht vollständig auflösen.

 

011 Blind

Eigentlich wollte er ins Kino gehen. Kino war für ihn immer wieder ein Erlebnis erster Klasse. Am liebsten sah er sich Mysterystoffe an. Das Anschauen lenkte ihn von seinem Alltag, ja vom Schicksal seines Lebens ab. Von seiner Wohnung aus war der Weg zu Fuss in 10 Minuten zu schaffen. Beim Betreten der Strasse stellte er zu seinem Ärger fest, dass die Wahl seiner Garderobe unzulänglich war. Nur mit einem Jacket fror er gemein. Ein Trenchcoat, den er durchaus sein Eigen nannte, hätte ihn vor der ungewöhnlichen Kälte des heutigen Maiabends bewahrt. Klimakatastrophe, schoss es ihm durch den Kopf. Selbst im Mai war es noch verflucht kalt. In seiner Kindheit war er jedes Jahr im Mai auf kurze Hosen umgestiegen, war von Kälte keine Spur gewesen. Aber heute? Langsam, dann immer schneller werdend, schritt er auf dem Bürgersteig voran, Richtung Kino. Es war gegen 20.00 Uhr, die nahe Kirchturmsuhr hatte vor kurzem selbige Zeit angezeigt und mit einem Glockenschlag besiegelt. Die umfassende Dunkelheit, in der er sich bewegte, nur spärlich durch einige funzelartige Strassenlaternen aufgelockert, wurde abgelöst durch einen grellen Lichtblitz, der ihn bzw. seine Augen blind werden liess. Verzweifelt rieb er an seinen Augenlidern, der Lichtschock sass ihm in den Knochen. Von weitem hörte er Hilferufe, die aber kurze Zeit später wieder verstummten. Was war geschehen? Totenstill, nach den Schreien, unwirkliche Realität. Mein Gott, wenn ich doch bloss wieder sehen könnte, dachte er. Er nestelte in seinen Hosentaschen nach einem Papiertaschentuch, um die Tränen, die durch die Blendung verursacht worden waren, aus den Augenwinkeln zu wischen.

 

012 Gedankenspiel

Die Gedanken entstehen mit einer erschreckenden Schärfe in mir, scharf wie das Fallbeil des Henkers und ich sehe eine andere Seite meiner Selbst. Diese Seite, ich habe sie bisher nie gesehen, geschweige denn erkannt oder überhaupt erkennen können. Akzeptieren wollte ich, oder habe ich sie nicht können, bisher. Die Schärfe manifestiert sich in der Darstellung einer nicht enden wollenden Reihe von Geschehnissen in meinem Leben, die zu Karikaturen meiner Erinnerungen geworden sind und an die ich immer geglaubt hatte. Nun wird Rechenschaft abgelegt. Was habe ich nicht alles anderen zugefügt? Wie oft war ich kleinlich eifersüchtig, habe diese Empfindungen gehegt und gepflegt, hatte und habe tief in mir wurzelnde Vorurteile, die ich bei Bedarf auslebte und sie zum Impetus meines Verhaltens machte. In meinem Bewusstsein verankerte Halbwahrheiten, mein oft übergrosses Selbstmitleid, meine vielfältigen Ängste, mit einem Wort alles, was in mir dunkel und verborgen ist, wird scheinwerferhell ausgeleuchtet und zu Tage gebracht. Akzeptieren? Nein, noch kann ich das Alles nicht wirklich akzeptieren. Vielleicht werde ich das nie können. Aber Hoffnung habe ich, weil ich in mir eine innere Quelle von Kraft und Verständnis verspüre, die mich in die Lage versetzen wird, meinen Geist den Bildern zu öffnen. Er wird sich weiten, um alles zu erfassen, was ich gesehen habe. Eine warme, stark pulsierende Emotion breitet sich in mir aus und ich kann diese Seite von mir nicht mehr leugnen, auch meine Geringfügigkeit nicht, diese dezimierte Abbildung meiner Person, für die ich mich immer gehalten habe.

 

013 Meine Angst

Ich habe irgendwann diese Angst bekommen. Das kann ich mir selbst eingestehen. Es war und ist eine Angst, die ich bisher nicht erkennen konnte, weil sie sich so leicht mit anderen Empfindungen verwechseln liess. Die Angst hatte sich getarnt. Diese Angst hatte und habe ich vor dem, was ich wirklich war und bin. Angst vor meiner Persönlichkeit. Mit Entschlossenheit hatte ich sie vor langer Zeit begraben, sie in ei-nen tiefen Brunnenschacht geworfen und mit Erde und Unrat bedeckt. Ihre Existenz konnte ich so leichter leugnen, vor mir selbst und auch vor anderen. Herz, Geist und Körper können nie eins werden, solange diese Angst mir innewohnt. Immer wieder frischte ich diesen Zustand durch Selbsttäuschung auf, immer darauf bedacht, meine Ängste an Alltagsvorkommnissen festzumachen. Was ist an dem, was mich ausmacht, so erschreckend, so abstossend, so gefährlich, so unwirklich, so menschenfremd, dass ich vor dieser meiner Persönlichkeit eine Art Urangst entwickelt habe? Ich bin der festen Überzeugung, dass ich vor mir Angst habe. Warum? Liegt es an der Erkenntnis, völlig anders zu sein, als meine Mitmenschen? Wieso empfinde ich mich dann als andersartig? Liegt es an den Interessen, die ich mein Leben lang hatte und die andere nicht haben? Gründet es auf den philosophischen Betrachtungen des Lebens, die ich immer wieder anstelle? Bin ich einfach nur krank? Halte ich mich für etwas Besonderes, ohne dafür Begründungen liefern zu können? Möglicherweise fürchte ich, eine Handlung meinerseits könnte so diametral allem Menschlichen gegenüber stehen, dass man mich als Monster bezeichnen würde? Haben meine Straftaten diese Voraussetzung erfüllt und ich bin durch sie zum Monster geworden? War und ist es so, mag meine Angst ihre Berechtigung gehabt haben. Sie war dann begründet. Aber was ist jetzt? Die Delikte haben ihr Ende gefunden und ich büsse dafür. Warum also immer noch diese Angst? Die Theorie vom Anderssein hat sich hier in der Anstalt in Luft aufgelöst. Es gibt einfach zu viele, die so waren wie ich und nun büssen müssen. Könnte diese vergrabene Urangst eine Beschäftigungstherapie meines Geistes sein, immer darauf bedacht, mich beschäftigt zu halten und mir Anlässe zu geben, reflektorisch mein Dasein zu betrachten, um immer wieder neue Anläufe machen zu können, mein Leben zu meistern. Mir geht jetzt irgendwie die Puste aus. Ein Schritt um zu einer Lösung zu kommen ist, jedes Angstgefühl, das mich unmotiviert befällt, sorgfältig zu prüfen. Kann dieses Gefühl an irgendeinem aktuellen Problem festgemacht werden? Ist das Problem bei näherer Betrachtung wirklich so gravierend? Verliert sich die aktuelle Angst, wenn sich meine Betrachtungen dem Brunnenschacht nähern und aus dem dortigen Gerümpel die Urangst hervorlugt? Angstgefühle und -zustände muss ich immer wieder auf den Prüfstand stellen und möglichst sofort einer Bewertung unterziehen, um dann die Entscheidung treffen zu können, von welcher Art meine Angst ist. Die Angst vor meiner Per-sönlichkeit, also diese so bezeichnete Urangst, kann ich abbauen, vielleicht sogar völlig verlieren, indem ich meine Persönlichkeit nach und nach einer Veränderung unterziehe, sie immer wieder offen und öffentlich darstelle und mein Umfeld darin einbinde, zu einer Bewertung meiner Selbst zu kommen. Ich will mich unbedingt persönlich kennenlernen.Wie würde jemand darauf reagieren, wenn ich sagte, ich suche nach einem Schmerz, nach meinem Schmerz. Gemeint ist nicht ein körperliches Ge-brechen, oder eine Krankheit, schmerzverursachend, behindernd, belastend. Nein, hier gilt die Suche einem tiefsitzenden, inneren, seelischen Schmerz, geht das Suchen in die entscheidende Phase. Lange schon war mir bewusst, dass ich an etwas leide, was mit Worten nicht einfach zu erklären ist. Selbst in völligem Ruhezustand nagt ein Schmerz an meiner Seele, unstillbar, unerklärlich, aber durchaus fordernd, nach Linderung schreiend. Wie lindere ich meinen Schmerz? Nun, dazu muss ich erst einmal den Grund des Schmerzes wissen, seine Auswirkungen auf mich kenne ich ja. Heute zum Beispiel legte ich mich hin, deckte mich zu, nicht ohne vorher den Wecker zu stellen und dann geschah es. Plötzlich tiefschwarze Gedanken, Schmerz in mir und dann die Folge, die ich nicht genau beschreiben kann, es fühlt sich so an, als würde irgendetwas in meine Adern gespritzt, es brennt, ich glühe für eine kurze Zeit, schwitze, dann eine sehr kurze Wohlfühlphase und dann wieder Schwärze und Schmerz. Die Brust fühlt sich beengt an, kein Hungergefühl, obwohl ich heute noch nichts gegessen habe, ja man kann sogar von einem Völlegefühl sprechen. Die Ge-danken fliegen in mir dahin, nichts lässt sich festhalten oder gar beschreiben. Ich lebe im Nichts mit diesem Schmerz und dem Gefühl heftig krank zu sein. Diesen Zustand habe ich in der Vergangenheit schon etliche Male erlebt und gelebt. Mein Gott, es muss doch eine Erklärung geben, ich bin nur sicher, dass das alles mit diesem unerklärlichen Schmerz zu tun hat, das die Atmung erschwert, im Zwerchfell vielleicht Verkrampfungen auslöst, die brennende Adern usw. hervorruft. Woher komm dieses Schmerzgefühl, das sich körperlich nicht deuten lässt, seelisch aber genauso nicht? Die schwarzen Gedanken und Gefühle lassen sich nicht verifizieren. Schon gab es wieder diesen Anfall, wie bereits beschrieben. Die Adern brannten regelrecht. Trotzdem löst dieser Zustand keine besondere Ängstigung in mir aus. Ja, ich denke, ich geniesse diesen Zustand, der rauschähnlich ist. Gern würde ich ihn länger haben, aber er währt jeweils nur einige Sekunden. Danach, also jetzt ist wieder alles wie vorher, Trauer, Schmerz, Unsicherheit und auch die Bereitschaft den Zustand zumindest zu erklären, wenn schon nicht anzugehen. Woher kommt diese plötzliche Trauer, woher kommt dieser Schmerz, gefühlt in der Brust? Der Kopf ist schwer, als wenn dort zur Zeit Schwerstarbeit geleistet würde. Aber bewusst denke ich eigent-lich nichts, bis auf die Wörter, die ich niederschreibe. In Bezug auf diesen Schmerz sollte ich mit einem Menschen reden. Ich glaube, ich habe Angst man hält mich für bekloppt, wenn ich diesen inneren Zustand öffentlich mache. Aber die Leute hier wissen oder vermuten, dass da in mir irgendetwas brodelt. Nur ohne meine Erklä-rung können sie ja nicht reagieren. Dieser tiefsitzende Schmerz muss heraus, das ist klar. Nur worauf bezieht er sich? Das Einsamkeitsgefühl hängt damit unmittelbar zusammen. Einsam, schmerzerfüllt, unstillbar traurig und der Realität fern, so könnte man diesen Zustand beschreiben. Auch der Besuch meiner Frau brachte mich in dieser Beziehung nicht weiter, weil ich über 1000 Dinge geredet habe, nur darüber nicht, weil ich denke, sie kann mir auch nicht helfen und mich auch nicht verstehen. Aber da käme es ja einfach mal auf einen Versuch an. Vielleicht bin ich für sie dann wesentlich begreifbarer und überschaubarer, wenn ich ihr meine Not schildern würde. Auch im Behandlungsgespräch könnte mir Hilfe werden und auch in der Einzel-therapie. Ich müsste meinen Zustand nur öffentlich machen, dann könnte mir bei der Suche nach der Urangst und diesem fast vernichtenden Schmerz geholfen werden. Ich muss, um weiter zu kommen, diese besondere Angelegenheit angehen. Schaden kann es eigentlich nicht, schlechtestenfalls halten mich dann alle für bekloppt, aber ist das nicht unwichtig?